Diagnose Typ 2 Diabetes: So genießt du das Leben
Wie Genuss und Lebensfreude nach der Diagnose Typ 2 Diabetes möglich sind. Erhalte hier Tipps für Neudiagnostizierte.
Stressige Situationen sind Teil des Alltags. Bei Menschen mit Typ 2 Diabetes können jedoch Stressbelastungen zu einem ernstzunehmenden Problem werden.
Jeder kennt Zeiten, in denen es hoch hergeht: Das Leben ist schnell, laut und es fordert uns sehr. Dann fährt das körpereigene Stresssystem hoch. Die Hormone Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin werden aktiviert und ausgeschüttet, bringen sofort Energie und steigern unsere Konzentration. Bis zu einem gewissen Punkt ist das unproblematisch, allerdings tragen Menschen, die dauerhaft Stress empfinden, ein höheres Risiko, an Typ 2 Diabetes zu erkranken. Bei Menschen, die bereits die Diagnose Typ 2 Diabetes haben, kann sich die Krankheit schon durch kurzzeitige Stressbelastungen verschlimmern oder die Behandlung verkomplizieren.
Wir sprachen darüber mit Frau Jennifer Grammes, Psychodiabetologin in Ausbildung und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Psychologischen Instituts der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Stress ist die körperliche und psychische Reaktion eines Menschen auf bestimmte Reize (Stressoren), die er als potentiell bedrohlich wahrnimmt (zum Beispiel für die Gesundheit oder den Selbstwert) und für die er aus eigener Sicht keine ausreichenden Bewältigungsstrategien besitzt. Die Stressreaktion ist lebenswichtig, denn sie ermöglicht uns die Anpassung an sich verändernde Situationen und versetzt unseren Organismus in einen Zustand der Alarmbereitschaft, um schnell reagieren zu können. Es werden Energiereserven freigesetzt, um den Körper auf Kampf oder Flucht vorzubereiten – die sogenannte fight-or-flight-Reaktion.
Dafür werden unter anderem Stresshormone wie Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Sie haben eine Insulin-antagonistische Wirkung, das bedeutet: Sie sind Gegenspieler des Insulins. Sie stimulieren die Bereitstellung von Glucose im Körper und hemmen die Insulinsensivität und -wirkung, wodurch der Blutzuckerspiegel ansteigt.
Im Gegensatz zu unseren Vorfahren müssen wir heutzutage nicht mehr gegen einen Säbelzahntiger kämpfen oder einen schnellen Sprint zur Flucht hinlegen – die Stressreaktion des Körpers ist jedoch immer noch die gleiche. Ohne die entsprechende körperliche Aktivität werden die Stresshormone langsamer abgebaut. Insbesondere wenn wir im Alltag chronischen Stress erleben, wenige Regenerationsphasen haben und körperlich inaktiv sind, kann sich das auf unseren Blutzucker auswirken – er ist dann möglicherweise dauerhaft erhöht.
Viele Menschen mit Diabetes mellitus machen die Erfahrung, dass ihr Blutzuckerspiegel und ihr Insulinbedarf von Stress beeinflusst werden. Schwankende Blutzuckerspiegel und die Anforderungen des Diabetes-Selbstmanagements im Alltag können wiederum selbst zu Stressoren werden und zusätzlich zum Stress beitragen. So gerät man schnell in einen Teufelskreis, der möglichst frühzeitig unterbrochen werden sollte.
Die Insulinsensitivität, sogar der ganze Zuckerstoffwechsel, kann sich durch psychischen oder physischen Stress (z.B. Erkrankungen) ändern. Der Insulinbedarf wird dadurch beeinflusst und die Kalkulation der Insulindosis erschwert. Wie der Stress sich allerdings im Einzelfall auswirkt, ist schwer vorherzusagen. Es ist deshalb wichtig, den Blutzucker während oder nach Stresssituationen zu überprüfen und möglicherweise auch ein Stresstagebuch zu führen, um die Zusammenhänge von Stress und Blutzucker zu monitoren. Auf diese Weise lernt man die eigenen Reaktionen des Körpers auf Stress und die Symptome eines hohen Blutzuckerspiegels besser kennen und ist auf kommende Stresssituationen besser vorbereitet.
Viele Studien deuten auf einen Zusammenhang von Stress und Typ 2 Diabetes hin. Dabei werden verschiedene physiologische Mechanismen diskutiert wie etwa eine höhere Insulinresistenz, aber auch ein indirekter Zusammenhang von Stress und Diabetes mellitus, der beispielsweise über einen ungesünderen Lebensstil in Stresssituationen vermittelt wird. Der Diabetes kann wiederum auch zum Stressor werden, wenn das Diabetes-Selbstmanagement überfordernd wird oder große Sorgen vor Folgeerkrankungen bestehen.
Welche Mechanismen dem Zusammenhang von Stress und Diabetes mellitus tatsächlich zugrunde liegen, ist noch nicht abschließend geklärt. Vermutlich spielt die Interaktion vieler verschiedener Faktoren eine Rolle. Stress allein löst also höchstwahrscheinlich keinen Diabetes aus, ist aber ein hoher Risikofaktor für eine Typ 2 Diabetes Erkrankung.
Wie belastend ein Stressor wahrgenommen wird, ist individuell und hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel der Bewertung der Wichtigkeit und der vorhandenen Bewältigungsressourcen. Wenn ich beispielsweise einen Arbeitsauftrag ausführen soll, der besonders wichtig für meine Karriere ist, auf den ich mich aber nur mäßig gut vorbereitet fühle, wird dies wahrscheinlich stärkeren Stress auslösen, als wenn es sich um eine weniger wichtige Routineaufgabe handelt, bei der mich womöglich eine Kolleg:in unterstützt. Besonders belastend sind Stressoren, die wir als unvorhersehbar und unkontrollierbar einschätzen, auf die wir also wenig Einflussmöglichkeiten haben.
Stressreaktionen wie etwa vor einer wichtigen Präsentation sind meistens kurzfristig und unbedenklich. Die Stresshormone ermöglichen es uns, über kurze Zeit sehr fokussiert zu arbeiten, wir werden leistungsfähiger und fühlen uns gut. Kurzfristiger Stress ist also ein normaler Aspekt unseres Alltags und kann nie völlig vermieden werden. Problematisch sind überdauernder Stress, ständige Überforderung oder Überbelastung ohne Regenerationsmöglichkeiten.
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Stress im Job ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung eines Typ 2 Diabetes ist. Dabei geht es allerdings nicht um den „ganz normalen Wahnsinn“ am Arbeitsplatz, sondern um Situationen, die überdauernd als belastend erlebt werden, mit einer hohen Arbeitsanforderung bei gleichzeitig geringem Handlungs- und Entscheidungsspielraum.1
Wer viel arbeitet und ein hohes Maß an Stress im Job erlebt, ist zudem gefährdet, das Diabetes-Selbstmanagement zu vernachlässigen, sich weniger zu bewegen und ungesünder zu ernähren, was sich wiederum ungünstig auf den Blutzucker auswirken kann. Gerade in stressigen Arbeitsphasen ist es also wichtig, für Ausgleich zu sorgen und die Selbstfürsorge nicht zu vergessen, um gesund und leistungsfähig zu bleiben.
Wer eine längere stressreiche Phase vor sich hat und unsicher ist, wie sich der Stress auf den Blutzucker auswirken wird, kann ein Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin über eine Therapieanpassung durchaus sinnvoll sein. Er/Sie kann zum Beispiel wichtige Hinweise dazu geben, welche Basalinsulindosis angemessen wäre und was bei einer Korrektur mit Insulin beachtet werden muss. In längeren stressreichen Phasen sollte zudem der Blutzucker häufiger gemessen werden. Das gleiche gilt auch für Phasen von Krankheit, die für den Körper ebenfalls Stress darstellen können. Aus psychologischer Sicht macht es Sinn, den Alltag vorab gut zu strukturieren und feste Regenerationsphasen einzuplanen.
In einer akuten Stresssituation ist die Blutzuckerkontrolle vermutlich nicht das Erste, an das gedacht wird. Zunächst ist es wichtig, aus der akuten Anspannung herauszukommen, etwa mit einer kurzen Achtsamkeitsübung (z.B. 5 Dinge benennen, die ich im Moment sehe, höre, rieche und fühle), oder langsames, bewusstes Atmen. Nach der Stresssituation sollte der Blutzucker jedoch spätestens überprüft werden. Manchmal stabilisiert sich der Blutzucker nach der Stresssituation wieder von selbst. Wenn er jedoch stark angestiegen ist und gegebenenfalls mit Insulin nachkorrigiert wurde, sollte der Blutzucker anschließend regelmäßig überprüft werden, um sicherzustellen, dass es nicht zu einer Hypoglykämie kommt.
Ein anhaltend hoher Cortisolspiegel kann das Diabetes-Selbstmanagement im Alltag erschweren und dauerhaft auch Depressionen begünstigen, deshalb ist Stressmanagement im Alltag mit Diabetes mellitus besonders wichtig.
Eine erhöhte emotionale Belastung aufgrund von diabetes-spezifischen Anforderungen ist eine spezifische Form von Stress, die wir auch als Diabetes-Distress bezeichnen. Der Diabetes-Distress zeigt sich zum Beispiel in Form von ständigen Sorgen, Schuldgefühlen, Kontrollverlusterleben und „Diabetes-Burn-Out“. Diese Form von Stress kommt häufig vor – mehr als ein Drittel der Menschen mit Diabetes mellitus sind davon betroffen. Diabetesbezogener Distress ist zunächst eine normale, emotionale Reaktion auf die vielfältigen Anforderungen, die der Diabetes und das Diabetes-Selbstmanagement mit sich bringen.
Leider wirkt sich der Diabetes-Distress langfristig ungünstig auf das Selbstbehandlungsverhalten und damit auch auf die Stoffwechselkontrolle (z.B. HbA1c-Wert) aus, kann zur Entwicklung einer Depression beitragen und ist mit einer reduzierten Lebensqualität assoziiert. Eine erste wichtige Präventionsmaßnahme zur Vermeidung von Diabetes-Distress ist der Besuch einer Diabetesschulung, um die eigene Handlungskompetenz zu stärken. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen – zum Beispiel in Selbsthilfegruppen kann unterstützend wirken. Online gibt es mittlerweile viele Möglichkeiten, Erfahrungsberichte anderer Menschen mit Diabetes mellitus zu lesen oder in Kontakt zu kommen, zum Beispiel bei der Deutschen Diabetes Online Community oder der Deutschen Diabetes Hilfe Mensch). 2,3
Sollte der Diabetes-Distress im Alltag überhandnehmen und die Alltagsgestaltung beeinträchtigen, kann eine Psychotherapie bei der Bewältigung hilfreich sein. Auf der Webseite der AG Diabetes und Psychologie findet sich eine Liste von Fachpsychologen und Psychotherapeuten, die speziell im Bereich Diabetes weitergebildet sind.4
Generell kann man an drei Ebenen ansetzen, um das eigene Stresslevel im Alltag zu reduzieren: am Abbau der Stressoren beziehungsweise Stressquellen, an der Bewertung der Situation und den persönlichen Einstellungen, und an der Stressreaktion selbst.
Genauso vielfältig wie die Quellen von Stress sind auch die Möglichkeiten, diese zu reduzieren: beispielsweise das Erstellen von To-Do Listen, das Etablieren von Routinen im Alltag oder der Wechsel eines stressreichen Jobs. Auch der Besuch einer Diabetesschulung kann sinnvoll sein, um die Handlungskompetenz im Umgang mit dem Diabetes zu verbessern und den Diabetes im Alltag besser zu integrieren.
Es kann zudem helfen, sich die persönlichen „Stressverstärker-Gedanken“ bewusst zu machen und durch hilfreiche Gedanken zu ersetzen, an die man sich beispielsweise mit Hilfe von post-its an prominenten Stellen im Haus erinnert. Aus den Gedanken „ich bekomme meinen Blutzucker nie in den Griff, ich bin ein Versager“ wird dann möglicherweise „heute war es schwierig, aber morgen ist auch noch ein Tag, nobody is perfect“. Ein Blick auf die eigenen Kompetenzen und die positiven Aspekte des Alltags können förderliche Denkmuster stärken.
Die Stressreaktion kann kurz- und langfristig sowohl mit Hilfe von körperlicher Aktivität wie verschiedenen Sportarten, als auch mit Hilfe von Entspannungsverfahren wie zum Beispiel autogenem Training oder progressiver Muskelentspannung beeinflusst werden.
So individuell wie die Menschen sind auch die hilfreichen Strategien im Umgang mit Stress im Alltag. Nicht jede Strategie funktioniert für jede:n und es macht Sinn, für sich verschiedene Strategien für unterschiedliche Situationen zu finden, um Regeneration zu ermöglichen.
Ich persönlich entspanne gerne bei einer morgendlichen Runde mit dem Hund im Wald: die tägliche Routine, eine frische Brise, das Rauschen der Blätter und der Duft von Moos erden mich und lassen mich achtsam werden für den Augenblick. In Japan wird das sogenannte „Waldbaden“ (japanisch: Shinrin Yoku) schon seit den 1980ern als fester Bestandteil der Gesundheitsvorsorge propagiert. Und wer keinen Wald vor der Tür hat, kann auch bei einem achtsamen Spaziergang durch den Stadtpark, oder im heimischen Garten die Sinne schärfen und dem Tempo des Alltags entfliehen.
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